Ist uns bewusst, dass unser Gemeindezentrum schon durch die Namensgebung „Farbe bekennt“? Matthäus- und Johannes-Raum verweisen auf die Evangelisten, deren Zeugnis uns die Richtung weist. Aber wer waren Mörike und von Jan, nach denen die hinteren Zimmer benannt sind?
Dietrich Bonhoeffer, nach dem sich das ganze Gemeindezentrum nennt, dürfte bekannt sein; wer seine Erinnerung auffrischen will, sei auf das Buch von Renate Wind verwiesen, „Dem Rad in die Speichen fallen“. Aber auch Mörike und von Jan waren Männer, die „dem Rad in die Speichen“ gefallen sind. Wer nicht so häufig im Mörike- und Jan-Zimmer verkehrt, wo man ihre Biographien nachlesen kann, den möchte unsere Kolumne auf diese Männer verweisen. Hier nun Otto Mörike und seine Frau Gertrud.
Otto Mörike 1897-1978; Gertrud Mörike, geb. Lörcher, 1904-1982
Als Pfarrer in Oppelsbohm (Kreis Waiblingen) hatte Otto Mörike die ersten Schwierigkeiten mit den Nationalsozialisten, als er gegen die vorübergehende Absetzung von Landesbischof Wurm protestierte. Wirklich schlimm und gefährlich wurden die Zusammenstöße mit dem Regime dann ab 1935 in Kirchheim u.T., besonders als Mörike bei der „Volksabstimmung“ im April 1938 seine Stimmverweigerung in einer schriftlichen Erklärung ausführlich begründete; ebenso – fast noch radikaler – seine Frau. „Die Auflösung von Sittlichkeit und Recht“ und „die Zerstörung der Kirche und die Entchristlichung unseres Volkes“ nannten Mörikes als Grund für ihre Ablehnung der Politik Hitlers.
Noch in der Wahlnacht wurde Mörike von aufgebrachten Nazis unter Führung eines SS-Manns in seinem Schlafzimmer überfallen und misshandelt und vorübergehend in ein Gestapo-Gefängnis gebracht. Nach erneuten organisierten Krawallen musste Mörike auf Weisung der Partei die Stelle in Kirchheim aufgeben und fand schließlich 1939 eine neue Pfarrei in Weissach und Flacht (Kreis Leonberg), mit Wohnsitz in Flacht.
In Flacht hatte die Familie Mörike die Gemeinden bald schützend auf ihrer Seite. Obwohl von der Gestapo ständig überwacht, konnten die Mörikes hier verfolgte Juden im Pfarrhaus verstecken; ja, Mörike wurde zu einem der Hauptverantwortlichen des württembergischen Bruderrings, der untergetauchte jüdische Flüchtlinge beherbergte oder ihnen Fluchtquartiere vermittelte. („Verstecken“ ist übrigens ungenau: Mörikes ließen ihre „harmlosen Besucher“ in der Öffentlichkeit sehen, da gerade das Verheimlichen Verdacht erregt hätte.) Über die Motive des für ihn selbst und für die ganze Familie lebensgefährlichen Einsatzes hat Mörike später geschrieben: „Es war natürlich auch der Abscheu vor der gotteslästerlichen Judenvernichtungspolitik der Nazi; aber das hätte bei der Angst ums Leben, für den Fall der Aufdeckung der Verbergungsaktion, welche auch uns nicht ferne war, nicht ausgereicht, entschlossen zu handeln; sondern es waren in der Hauptsache drei Kräfte, die uns das Rechte tun ließen: 1.) Das Erste Gebot, wie es Luther auslegt: Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten; 2.) der Gehorsam gegen Christi Gebot, z.B. das Gleichnis vom barmherzigen Samariter; 3.) und endlich ein Wort aus dem 1. Johannesbrief 4, 18–19: Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus.“
Gertrud Mörike hat die Haltung und das Tun ihres Mannes in Kirchheim wie in Flacht tatkräftig mitgetragen; ohne sie hätte er nicht tun können, was er tat. Von ihr gibt es das Wort (aus dem Jahr 1943): „Wenn draußen im Felde die Männer haufenweise zugrunde gehen für etwas so Schreckliches wie das Dritte Reich, dann ist es das Gegebene, dass auch wir unser Leben einsetzen für etwas Richtiges, Gutes.“
Der Staat Israel hat 1970 Gertrud und Otto Mörike die höchste zu vergebende Auszeichnung, die Yad-Vashem-Medaille, verliehen; und ihnen beiden wurde in der „Allee der Gerechten“ in Jerusalem ein Baum gepflanzt. Nach dem Krieg war Otto Mörike 1947-1953 Pfarrer in Weilimdorf an der Oswaldkirche; später wurde er Dekan in Weinsberg (1953-1959).
Weilimdorfer, die Mörike noch als ihren Pfarrer kennengelernt haben, sind von seiner mitreißenden Persönlichkeit, von seiner Fröhlichkeit und seinem Humor stark beeindruckt. Und natürlich von seiner Glaubenskraft: von dem Anspruch und der Zuversicht seines Glaubens. Jeder, der zur Gemeinde gehört, muss sich irgendwie in der Gemeinde betätigen, war seine Überzeugung. Und schon 1930 in Oppelsbohm schaffte er den zwangsweisen Kirchensteuereinzug, der damals üblich war, ab (müde, sich immer mit säumigen Zahlern herumzuschlagen); stattdessen führte er die freiwillige Kirchensteuer an vier Opfersonntagen im Jahr ein. Und er hatte damit Erfolg! Er war „ein Stachel im Gewissen der Menschen“; und „alles, was er als richtig erkannt hatte, wollte er durchsetzen“ – so heißt es in Berichten seiner Bekannten.
Otto Mörike engagierte sich auch im Alter. Er wurde Beauftragter der Aktion Sühnezeichen in Baden-Württemberg und Initiator eines jüdischen Altenheims in Villeurbanne/Rhône. Er brachte als streitbarer Beistand der Kriegsdienstverweigerer all seine Schützlinge durch das Anerkennungsverfahren; und er ging als Ostermarschierer gegen die Atombewaffnung auf die Straße. Immer wieder mahnte er, dass „aus den schmerzlichen Erfahrungen des Dritten Reiches positive Früchte erwachsen müssten“; und er litt darunter, wenn der Staat und „seine Kirche“ andere Wege gingen.
Hansjürgen Popp, Gemeindebrief 3/2003